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Handbuch der Rechtsförmlichkeit / Inhalt / Teil A – Ziffer 4

Teil A: Vorbemerkungen zur Rechtsprüfung
  1. Die Zuständigkeit des Bundesministeriums der Justiz für die Rechtsprüfung  
  2. Begriffliche Klarstellungen  
  3. Hilfen bei der Vorbereitung der Entwürfe und bei der Rechtsprüfung  
  4. Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit  
  Teil B: Allgemeine Empfehlungen für das Formulieren von Rechtsvorschriften  
  Teil C: Stammgesetze – erstmalige Regelung bestimmter Sachverhalte  
  Teil D: Änderungsgesetze  
  Teil E: Rechtsverordnungen  
  Teil F: Formulierungshilfen für die Änderung von Gesetzentwürfen im Gesetzgebungsverfahren  
  Teil G: Bekanntmachung der Neufassung von Gesetzen und Rechtsverordnungen  
 
  Teil A Vorbemerkung zur Rechtsförmlichkeit
  4. Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit
 
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Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit ist ein zentraler Punkt der Rechtsprüfung. Die folgende Prüfliste soll dazu beitragen, verfassungsrechtliche Probleme rechtzeitig zu erkennen, die verfassungsrechtlichen Fragen präzise zu formulieren und die Sachverhalte dazu entsprechend darzulegen. Die Prüfliste kann nicht alle verfassungsrechtlichen Fragestellungen wiedergeben oder gar Lösungen aufzeigen. Deshalb ist es wichtig, bei Unsicherheiten oder Zweifeln frühzeitig und gezielt das Bundesministerium des Innern und das Bundesministerium der Justiz anzusprechen, um einzelfallbezogen die Verfassungsmäßigkeit zu klären (§ 23 Abs. 2 Nr. 2 GGO II).

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Prüfliste

  1.

Aus welcher Vorschrift des Grundgesetzes oder aus welchen sonstigen Kompetenzen (sog. ungeschriebene Zuständigkeiten) ergibt sich für das konkrete Gesetzgebungsvorhaben die Gesetzgebungskompetenz des Bundes? Bei konkurrierender Gesetzgebungskompetenz oder bei Rahmengesetzgebungskompetenz: Ist eine bundesgesetzliche Regelung zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich (Artikel 72 Abs. 2 GG)? Bei Rahmengesetzgebungskompetenz: Ist beachtet, daß Rahmenvorschriften nur im Ausnahmefall Regelungen enthalten dürfen, die in Einzelheiten gehen oder unmittelbar gelten (Artikel 75 Abs. 2 GG)?

  2.

Falls der Bund beabsichtigt, das Gesetz durch eigene Behörden auszuführen: Aus welcher Vorschrift des Grundgesetzes ergibt sich die Verwaltungskompetenz des Bundes?

  3.

Falls die Länder das Gesetz ausführen und im Gesetz Regelungen über die Ausführung des Gesetzes beabsichtigt sind (z. B. Regelungen über die Errichtung und Zuständigkeit von Behörden und über das Verwaltungsverfahren, vgl.Artikel 84 GG): Aus welcher Vorschrift des Grundgesetzes ergibt sich, daß der Bund die verwaltungsmäßige Ausführung des Gesetzes regeln darf (Verwaltungsregelungskompetenz)?

  4.

Falls in einem Gesetz, das die Länder ausführen, abweichend von Artikel 104a Abs. 1 GG eine Übernahme von Kosten durch den Bund vorgesehen werden soll: Aus welcher Vorschrift des Grundgesetzes ergibt sich, daß der Bund die Finanzierung ganz oder teilweise übernehmen darf (Finanzierungskompetenz)?

  5.

Falls das Gesetz Regelungen über die Finanzierung der Kosten durch Dritte enthalten soll (z. B. über Gebühren und Beiträge, Sonderabgaben): Aus welcher Vorschrift des Grundgesetzes ergibt sich, daß der Bund diese Form der staatlichen Aufgabenfinanzierung regeln darf (Finanzierungsregelungskompetenz)?

  6.

Ist die Zustimmung des Bundesrates erforderlich? Aus welcher Vorschrift des Grundgesetzes ergibt sich die Zustimmungsbedürftigkeit? (Häufigster Fall: Artikel 84 Abs. 1 GG. Komplizierte Materie! BMJ frühzeitig beteiligen!) Welche Einzelvorschrift des konkreten Rechtsetzungsvorhabens löst aus welchem Grund die Zustimmungsbedürftigkeit aus (vgl. § 30 Abs. 3 GGO II)?

  7.

Falls in das Gesetz eine Ermächtigung zum Erlaß einer Rechtsverordnung aufgenommen werden soll (Übertragung der Rechtsetzungskompetenz auf die Exekutive): Ist die Verordnungsermächtigung nach Artikel 80 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG zulässig? Sind Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung hinreichend bestimmt? Bedarf die Rechtsverordnung der Zustimmung des Bundesrates gemäß Artikel 80 Abs. 2 GG? Soll die Zustimmungsbedürftigkeit der Rechtsverordnung durch das ermächtigende Gesetz ausgeschlossen werden?

  8.

Falls eine Rechtsverordnung erlassen werden soll: Auf welche konkrete bundesgesetzliche Ermächtigung stützt sich die Verordnung? In welcher Weise sind Inhalt, Zweck und Ausmaß der Verordnungsermächtigung im Gesetz bestimmt? Hält sich die Verordnung in diesem Rahmen? Welche Ermächtigungsnormen müssen in der Eingangsformel der Verordnung angegeben werden (Zitiergebot des Artikels 80 Abs. 1 Satz 3 GG)? Ist die Zustimmung des Bundesrates erforderlich?

  9.

Werden Grundrechte oder die in Artikel 93 Abs. 1 Nr. 4a GG genannten grundrechtsgleichen Rechte durch die beabsichtigten Rechtsregeln berührt? Werden Einrichtungsgarantien (Institutsgarantien oder institutionelle Garantien) durch die beabsichtigten Rechtsregeln berührt?

  9.1

Sind Freiheitsrechte berührt?

 

Sind spezielle Freiheitsrechte berührt? Oder ist sonst – wie immer bei belastenden Regelungen – zumindest das Auffanggrundrecht des Artikels 2 Abs. 1 GG (allgemeine Handlungsfreiheit) berührt? Welches ist der Schutzbereich der Freiheitsrechte und wird in diesen Schutzbereich eingegriffen?

Ist der Eingriff zulässig? Ist nach den Bestimmungen des Grundgesetzes der Eingriff in den Schutzbereich des Freiheitsrechts durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes zulässig (einfacher Gesetzesvorbehalt)? Ist der Eingriff nur unter bestimmten tatbestandlichen Voraussetzungen oder für bestimmte Zwecke zulässig (qualifizierter Gesetzesvorbehalt)? Beachtet die Regelung bei formal nicht einschränkbaren Grundrechten die Grenzen, die durch die Grundrechte anderer Grundrechtsträger oder durch andere Verfassungsgüter gezogen sind (verfassungsimmanente Grundrechtsschranken)?

Ist das Verbot des einschränkenden Einzelfallgesetzes (Artikel 19 Abs. 1 Satz 1 GG) beachtet?

Ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt? Welchem Zweck dient die Regelung? Ist dieser Zweck von der Verfassung allgemein oder für einen bestimmten Fall erlaubt? Ist die Regelung geeignet, um diesen Zweck zu erreichen? Ist sie dazu erforderlich oder reicht ein milderes, aber ebenso geeignetes Mittel aus? Ist die Regelung im Verhältnis zum angestrebten Zweck angemessen und für die Betroffenen zumutbar?

Ist beachtet, daß das Grundrecht nicht in seinem Wesensgehalt angetastet werden darf (Artikel 19 Abs. 2 GG)?

Ist das Zitiergebot nach Artikel 19 Abs. 1 Satz 2 GG beachtet?

  9.2

Sind Gleichheitsrechte berührt?

 

Sind die speziellen Gleichheitsrechte (absolute Differenzierungsverbote) beachtet?

Ist der allgemeine Gleichheitssatz beachtet? Welche Vergleichspaare gibt es? Wird Gleiches gleich, Ungleiches seiner Ungleichheit entsprechend ungleich behandelt? Bestehen für eine Differenzierung vernünftige, sich aus der Natur der Sache ergebende oder sonst sachlich einleuchtende Gründe? Gilt das bloße Willkürverbot oder besteht Anlaß (etwa bei Ungleichbehandlung von Personengruppen), strengere Anforderungen an die Ungleichbehandlung zu stellen? Sind die bestehenden Unterschiede (bei einer Ungleichbehandlung) oder Gemeinsamkeiten (bei einer Gleichbehandlung) gewichtig genug, um die Ungleichbehandlung oder Gleichbehandlung zu rechtfertigen?

  9.3

Welche Institutsgarantien (z. B. Ehe und Familie, Eigentum, Erbrecht) oder institutionelle Garantien (z. B. kommunale Selbstverwaltung, Berufsbeamtentum) werden berührt? Bleibt der traditionelle Kernbestand der Einrichtungsgarantie unangetastet?

  10.

Werden die in den Grundrechten zum Ausdruck kommenden objektiven Wertentscheidungen bei Regelungen beachtet, die nicht unmittelbar Beziehungen zwischen dem Staat und den Bürgern regeln (z. B. im Privatrecht und in völkerrechtlichen Verträgen)? Genügt der Staat seinen Schutzpflichten den Bürgern gegenüber?

  11.

Sind die beabsichtigten Rechtsregeln mit den in Artikel 20 GG aufgeführten Prinzipien (Demokratie, Sozialstaat, Rechtsstaat, Gewaltenteilung, Föderalismus) und mit den sonstigen allgemeinen Verfassungsrechtssätzen vereinbar?

  11.1

Sind die Gesichtspunkte der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit beachtet? Kann der Bürger voraussehen und berechnen, welche Belastungen auf ihn zukommen können?

  11.2

Ist der Grundsatz des Vertrauensschutzes beachtet?

 

Handelt es sich um eine – grundsätzlich unzulässige – echte Rückwirkung, d. h. um einen Eingriff in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände?

Handelt es sich um eine unechte Rückwirkung oder tatbestandliche Rückanknüpfung, d. h. um einen Eingriff in gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Tatbestände? Ist diese zulässig, etwa weil die Bedeutung des Regelungsziels den Grundsatz des Vertrauensschutzes überwiegt?

Ist bei Strafgesetzen und Vorschriften über Ordnungsstrafen, Geldbußen, ehrengerichtliche Strafen und Diziplinarstrafen das absolute Rückwirkungsverbot des Artikels 103 Abs. 2 GG für strafbegründende und strafverschärfende Vorschriften beachtet?

  11.3

Ist berücksichtigt, daß der Gesetzgeber alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen muß und nicht der Exekutive überlassen darf (Wesentlichkeitstheorie)?

  12.

Sind in der Begründung der Gesetz- und Verordnungsentwürfe die für die Regelungen wesentlichen Gesichtspunkte und Abwägungen überzeugend dargestellt?